LVZ: „Lücke in Leipzig“

„Lücke in Leipzig“

Bislang kein spezielles Hilfsangebot für Jungs und Männer, die Opfer von sexueller Gewalt wurden

Opferberater schlagen Alarm: Es gibt weder in Leipzig noch in der Region ein spezielles Hilfsangebot für Jungen und Männer, die sexuelle, körperliche oder seelische Gewalt erlebt haben. Deshalb hat sich ein Arbeitskreis gegründet, der aber noch dringend Mitstreiter sucht. Dessen Ziel ist es, „die Lücke in Leipzig“ zu schließen, unter anderem Trägervereine für eine Extra-Info- und Beratungsstelle sowie eine Männerschutzwohnung zu finden.

In der Hauptstadt gibt es die „Berliner Jungs“, in Bremen das „Jungenbüro“. Und in Leipzig? „Zehn- bis 16-jährige Jungs, die im Internet ja ziemlich fit sind, haben den Test gemacht“, erzählt Franz Eder vom Leipziger Büro der Opferhilfe Sachsen. „Wir fragten: An wen würdet ihr euch im Falle eines sexuellen Übergriffs wenden? Sie fanden keine lokalen oder regionalen Angebote, von denen sie sich allein schon vom Namen her angesprochen fühlten. Nur eine bundesweite Hotline.“

Auch diese Stichprobe hat die Erkenntnisse des Leipziger Koordinierungskreises gegen sexualisierte Gewalt (KOK) bestätigt: Demnach wurden in den vergangenen Jahrzehnten spezifische Angebote für Frauen und Mädchen in Notlagen geschaffen, eine „gesellschaftliche Sensibilisierung in Bezug zu Jungen und Männern“ habe aber nicht stattgefunden. So gebe es beispielsweise in Leipzig zwei Frauenhäuser. „Für Männer, die Opfer von Gewalt wurden und Zuflucht suchen, existiert nichts“, so Sandra Strohbach von der Opferhilfe. „Wir hatten schon Fälle, wo dringend eine Bleibe benötigt wurde. Obdachlosenhäuser kommen da ja nicht infrage“, so die Sozialpädagogin.

Fälle aus Leipzig, die erst vor Kurzem am Landgericht verhandelt wurden, weisen auf den dringenden Beratungsbedarf hin. So hat nach Ansicht der Richter ein früherer Rechtsanwalt aus Leipzig, der zur hohen Strafe von neuneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, in besonders perverser Weise die beiden Jungen seiner Lebensgefährtin missbraucht. Das Gericht war überzeugt davon, dass der 52-Jährige die Kinder mit verschiedenen Praktiken unter Einsatz mehrerer Gegenstände über Jahre hinweg gequält hat. Zum Zeitpunkt des ersten Übergriffs – 2007 – waren die Jungen vier beziehungsweise fünf Jahre alt. Doch in der Familie wurden erste Anzeichen dafür nicht ernst genommen. Der Jurist hat die Vorwürfe bis zuletzt bestritten.

Studien zufolge ist jeder achte bis elfte Junge unter 18 Jahren in Deutschland mindestens einmal Opfer körperlicher sexualisierter Gewalt geworden. „Dazu zählen einmalige Übergriffe ebenso wie jahrelanger Missbrauch, wobei die Täter in etwa 75 Prozent der Fälle den betroffenen Jungen bekannt sind“, so der KOK. Bei Mädchen sei jedes vierte bis sechste schon einmal Opfer sexueller Übergriffe geworden.

„Missbrauch ist nach wie vor ein Tabuthema und die Hemmschwelle bei Männern und Jungen höher, sich Hilfe zu suchen. Welcher Mann gesteht sich schon ein, meine Frau verprügelt mich?“, so Strohbach. Jungen und Männer bräuchten einen anderen Zugang. „Unser Anliegen ist es, dafür zu sensibilisieren, dass auch sie sich eingestehen: Mir ist etwas Schlimmes widerfahren.“ Die Opferhilfe, die wie andere Vereine auch allen Betroffenen unabhängig vom Geschlecht offen steht, hat sich voriges Jahr um 16 sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche gekümmert, elf davon waren Jungen.

Der gerade ins Leben gerufene Leipziger Arbeitskreis Jungs und Männer (so der Arbeitstitel), zu dem neben der Opferhilfe bislang unter anderem Kinderschutzzentrum, Gesundheitsamt, „Frauen für Frauen“-Verein gehören, will zunächst alle Institutionen, Behörden und Vereine zusammenbringen, die mit dem Thema zu tun haben. In der nächsten Woche gibt es ein Treffen. Interessierte können sich bei der Opferhilfe melden. Nach Bedarfsanalyse und Bündelung von Angeboten ist es das Ziel, schnellstens die große Beratungslücke zu schließen.

Sabine Kreuz

Zahlen & Fakten

Der Verein Opferhilfe Sachsen verfügt im Landgerichtsbezirk Leipzig über zwei Beratungsstellen: in der Leipziger Fockestraße 8c (Telefon 03412254318; E-Mail: leipzig@opferhilfe-sachsen.de) sowie in der Torgauer Holzweißigstraße 30 (Telefon 03421775891; E-Mail: torgau@opferhilfe-sachsen.de).

In den ersten neun Monaten dieses Jahres beriet der Verein 240 Personen aus der Stadt und dem Landkreis Leipzig sowie 52 Personen aus dem Landkreis Nordsachsen. Im Vergleichszeitraum 2010 handelte es sich um 232 beziehungsweise 40 Personen.

Häufigste Delikte, derentwegen Ratsuchende sich an die Opferhilfe wandten, waren Körperverletzung, sexueller Missbrauch, Stalking und Bedrohung – etwa ein Drittel der Straftaten geschah in Partnerschaften oder im sozialen Nahraum.

Im Rahmen des Zeugenbegleitprogrammes betreuten Mitarbeiter von Januar bis September dieses Jahres 53 Zeugen vor, während und nach Prozessen (Vergleichszeitraum 2010: 45).

S. K. @www.opferhilfe-sachsen.de

Quelle: Leipziger Volkszeitung, 11. November 2011, S. 19