Ein streitbarer Artikel (auch) zu Gewalt gegen Jungen und Männer: „Der Feminismus hat sich verirrt“

Ende des Patriarchats

Der Feminismus hat sich verirrt

24.07.2013 · Ja, wir leben im Patriarchat. Aber es sind die Männer, die viel mehr und heftiger daran leiden als die Frauen. Ein Aufschrei und drei Forderungen.
Von Ralf Bönt

Gewalt hat keine Rasse, keine Klasse, keine Religion oder Nationalität, aber sie hat ein Geschlecht: Es ist ein bombastischer Satz, den die Autorin Antje Rávic Strubel seit ein paar Wochen vor sich herträgt. Gerne wüsste man, wie sie ihn begründet. Das letzte Buch der Extremfeministin Hanna Rosin kann sie nicht gelesen haben, denn darin wird voller Stolz eine Studie aus Großbritannien mit der Feststellung präsentiert, dass Frauen mittlerweile dreimal öfter wegen häuslicher Gewaltanwendung festgenommen werden als Männer. Genauere Zahlen findet man in Walter Hollsteins „Das missachtete Geschlecht“ oder in der sogenannten „Männerstudie“ der Evangelischen Kirche, die 2010 Furore machte. So sind etwa gleich viele Frauen und Männer in Familien handgreiflich, Frauen fangen aber öfter an und sind öfter bewaffnet als Männer.

Drei Viertel aller Opfer sind Männer. Gewalt von Frauen richtet sich am häufigsten gegen den eigenen Partner, ein Drittel der von Männern verübten Gewalttaten trifft Fremde. Frauen üben mehr psychische Gewalt aus als Männer. Der Mann als Opfer psychischer Gewalt ist noch krasser tabuisiert als jener, der physische Gewalt erlitten hat. Das gilt zwar nicht nur für Taten, die von Frauen begangen werden. Aber besonders deutlich wird das bei sexuellem Missbrauch von Jungen durch Frauen. Andreas Kloiber von der Tagesklinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Esslingen hat die einzige deutsche Studie durchgeführt, die sich speziell, differenziert und ausführlich mit sexuellem Missbrauch an Jungen befasst. Er geht von einem Täterinnenanteil von 20 bis 35 Prozent aus. Und Täterinnen wenden sehr sadistische Formen von Gewalt an, sagt Ursula Enders von der Fachberatungsstelle „Zartbitter“ in Köln. Insgesamt sind Jungs häufiger Opfer von Gewalt als Mädchen.

Frauen und Kinder

Antje Rávic Strubel wird auch weder Margaret Thatcher noch Lynndie England vor Augen haben, wenn sie mit ihrer Behauptung unterwegs ist. Sie bedenkt nicht, dass es mehr Frauen als Männer waren, die Hitler gewählt haben und in den ersten Kriegsjahren mehr Eroberungen forderten, natürlich von den Männern. Gewalt hat kein Geschlecht, kennt aber eines. Dass Männer Gewalt auszuhalten haben, ist ein konstituierendes Element des Patriarchats, denn das entstand einst als System zum Schutz von dauerschwangeren Frauen und deren Kindern durch Männer.

Obwohl das Patriarchat heute obsolet ist, weil Schutz vom Staat garantiert wird, Frauen nicht mehr dauerschwanger und hilflos sind und der Mann gerne vor allem als Begrenzer von Freiheit wahrgenommen wird, haben wir uns nicht von den Reflexen gelöst, die Strubel zu ihrer falschen, sexistischen Aussage führen. Im Gegenteil, eine neue Blindheit gegenüber der allgegenwärtigen Gewalt gegen Männer bei seismografischer Aufmerksamkeit für Benachteiligungen von Frauen legen nahe, dass wir in einem Patriarchat 2.0 leben. Während es bei dem aus der Zeit gefallenen Kompliment eines beleidigten Politikers eine kollektive Hysterie gibt, gehen Zeitungsmeldungen noch immer ganz selbstverständlich so: „Bei einem Bombenanschlag im Süden Afghanistans sind mindestens zehn Zivilisten getötet worden, darunter vier Frauen und drei Kinder.“ Der Tod der Männer wiegt nicht gleich, und diese Ungleichheit bildet die leichtfertige Gewaltbereitschaft gegen das Männliche ab, die als Sexismus-Indikator allerersten Ranges taugt.

Eine lange Liste

Auf allen Ebenen unseres sozialen Lebens kann man sehen, wie das Patriarchat zur Benachteiligung des Mannes funktioniert: Zwar bekommen Frauen acht Prozent weniger Lohn für dieselbe Arbeit, Männer leisten aber mehr unbezahlte Überstunden. Sie bekommen nur Bruchteile der finanziellen Aufwendungen im Gesundheitswesen, zum Beispiel in der Krebsvorsorge – und das, obwohl sie mehr Krebs haben als Frauen und häufiger daran sterben. Gesetzesinitiativen zur Verbesserung der Lage scheiterten, die Angleichung der Beiträge in der privaten Kranken- und Lebensversicherung waren dagegen erfolgreich. Männer werden vor Gericht für dieselben Delikte härter bestraft als Frauen, vom Diebstahl bis zum Kindsmord. Männer werden vom Jobcenter deutlich früher wegen Erschleichung von Leistungen angegangen als Frauen. Jungen bekommen für dieselben Leistungen in der Schule schlechtere Noten als Mädchen, denen man schon den Willen zur Leistung honoriert. Neun von zehn tödlichen Arbeitsunfällen treffen einen Mann. Obdachlosigkeit ist ein Männerproblem, weil Frauen leichter einen Unterschlupf finden, wenn sie pleite und ungewaschen sind. Die Liste ist sehr lang.

Aber wieso weiterreden, wenn in keiner Sexismusdebatte darüber gesprochen wird, dass sich acht bis zwölf mal mehr Jungen als Mädchen in der Pubertät selbst töten? Ich habe erlebt, wie Frauen die hohe Zahl erfolgloser Selbstmordversuche von Mädchen als Beleg für deren Benachteiligung angeführt haben oder behaupteten, Obdachlosigkeit sei für einen Mann weniger problematisch als für eine Frau.

Lebenserwartung

Es gibt eine ganz einfache Kenngröße, an der wir Patriarchat, und wie es zuerst und vor allem dem Mann schadet, messen können: die Lebenserwartung. Der Gender Inequality Index der Vereinten Nationen befindet, dass Gleichstellung zwischen den Geschlechtern schon dann herrsche, wenn die Differenz der Lebenserwartungen fünf Jahre beträgt (wovon wir in Deutschland derzeit nicht weit entfernt sind). Was ja nichts anderes heißt, als dass es die UN für gerecht hält, wenn Männer fünf Jahre vor den Frauen zu sterben haben. Wissenschaftlich gesichert ist nur, dass die Differenz in Klöstern oder im Kibbuz sehr gering ist. Um 1920 betrug sie in den Vereinigten Staaten ein Jahr, in Deutschland lag sie bis Ende des Zweiten Weltkrieges bei drei Jahren. Danach stieg sie, obwohl keine Kriege mehr zu führen waren, auf sieben Jahre. Die Lebenserwartung ist eine erstklassige sozioökonomische Variable, denn reiche Menschen lebten schon immer länger, weil besser als arme.

Eine Forschergruppe um Debbi Stanistreet vom Institut für Psychologie, Gesundheit und Gesellschaft an der Universität Liverpool fragte 2005 denn auch, ob das Patriarchat die Ursache für die höhere Sterblichkeit von Männern ist. Stanistreet ging dabei sehr robust vor: Sie sah sich 51 Länder an und nahm als Maß für Patriarchalität die Rate von Tötungsdelikten an Frauen. Dann stellte sie fest, dass diese engstens mit den Sterberaten von Männern korrelierten: Je früher die Männer starben, desto gefährdeter waren die Frauen. Männer starben jedoch in allen Ländern früher als Frauen.

Indem ihm von der Gemeinschaft nicht derselbe Schutz zugestanden wird, schadet das Patriarchat dem Mann immer zuerst und mehr als den Frauen, es schadet ihm auch mehr als es ihm nützt. Gegen die hohe, sozial bedingte Männersterblichkeit empfahl Stanistreet globale sozialpolitische Maßnahmen.

Neuer Sexismus

Sie würden einem dringend benötigten Ende des Patriarchats zuarbeiten. Im Lärm um Frauenquoten und unangemessene Dirndlkomplimente ist es aber so gut wie unmöglich, auf die fundamentalen Kennwerte zu sprechen zu kommen. Statt mehr Freiheit und Eigenverantwortung wird für Frauen mehr Schutz gefordert. Man will Unternehmen im Dax vorschreiben, wer einzustellen ist, obwohl die Neubesetzung von leitenden Positionen der deutschen Wirtschaft bereits zu 48 Prozent an Frauen geht: Noch immer sind wir in das Bild der Frau als Opfer verliebt, mehr als früher, obwohl die größeren Opfer der Mann trägt. Männer werden nicht etwa aus ihrer sozialen Rolle entlassen. Lieber wirft man ihnen Neue Weinerlichkeit vor, sobald sie sich zu ändern beginnen. Impotenz, hört man, breite sich aus, obwohl Warren Farrell schon vor zwanzig Jahren feststellte, dass sie meist mit simpler Unlust verwechselt wird. Vor allem droht der Neue Mann aber, seine Arbeitskraft nicht mehr uneingeschränkt für andere zur Verfügung zu stellen. Deshalb wird er so heftig bekämpft.

Es gibt einen Effekt zweiter Ordnung: Die fast schon totale Einigkeit der Medien und der Unterhaltungsindustrie, der Politik und der Rechtsprechung im Urteil über das männliche Geschlecht lässt nicht nur die Männer in Untätigkeit erstarren. Jungen müssen heute mit einem negativen Männerbild aufwachsen, das sie später verkörpern werden, weil sie kein anderes kennen. Hollstein macht genau das fürs Anwachsen der Gewalt unter Jungen verantwortlich. Dass die Erziehungsberufe von Frauen dominiert sind, wirft die Jungen noch weiter zurück. Männer werden nicht mehr als Vertrauenspersonen erlebt. So erzeugt unser sexistisches Gerede neuen Sexismus.

Gegenmaßnahmen

Dabei war es der Mann, der so oft mit den mörderischsten Selbstversuchen die moderne Wissenschaft vorangebracht, die Sterblichkeit gesenkt und Diktatoren besiegt hat. Frauen legt er große Kunst zu Füßen, wie Antje Rávic Strubel kritisiert, und während die Frau die Klos putzt, reinigt er die Kanäle und ist, mit einem Wort von Paul Nizon, der Unberührbare. In der Familie ist er ein besserer Hausmeister, verstopfte Abflussrohre sind genauso sein Metier wie die soziale Drecksarbeit beim Vermieter, den Handwerkern und der Bank. Wir debattieren über Adoptionsrechte für Homosexuelle, aber nicht über ein automatisches Sorgerecht des Vaters. Ein Mitspracherecht des Vaters bei Abtreibungen: Wer das fordert, muss irre sein. Der Vater ist der ausgeschlossene Dritte, und hier schließt sich der Kreis: Gesundheit entsteht in der Familie, wie jede Statistik zeigt. Das Ankommen des Mannes in der inneren Familie ist, da hat der Androloge und Professor für Sozialpädagogik an der TU Dresden Lothar Böhnisch recht, die wichtigste Aufgabe auf dem Weg in eine nicht sexistische Gesellschaft.

Mag die Daxquote kommen, die das Patriarchat 2.0 festigt, weil dann alle Frauen Quotenfrauen von Mannes Gnaden sein werden. Wir benötigen in jedem Fall Gegenmaßnahmen, die sich nicht nur auf die Forderung nach gleicher Lebenserwartung für alle in den Vereinten Nationen lebenden Menschen beschränken, sondern auch:

1. eine Quote bei den Ausgaben der Krankenkassen: Binnen zehn Jahren sollen maximal vierzig Prozent eines Jahresbudgets an ein Geschlecht allein gehen;

2. gleichberechtigte Elternschaft: Binnen zehn Jahren Sorgerecht für jeden leiblichen Vater, eine Mitwirkungspflicht der Mutter bei der Feststellung einer Vaterschaft;

3. eine Quote in den Erziehungsberufen: Binnen zehn Jahren muss die Verdrängung von Männern gestoppt und umgekehrt werden. Vierzig Prozent männliche Erzieher und Lehrer!

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ende-des-patriarchats-der-feminismus-hat-sich-verirrt-12289395.html