Opfer sein – eine Rolle, in der sich niemand gerne sieht und die vor allem für Männer tabu ist. Doch es gibt sie. Häufiger als angenommen.
Er war fast eingeschlafen, als sie anfing, ihn anzufassen. Während sich Ines‘ Hand in seinen Schritt vortastete, hielt Oliver seine Augen weiter geschlossen. Doch er rollte sich zur anderen Seite und kehrte ihr den Rücken zu. Trotzdem glitt ihre Hand in seine Hose und fing an, ihn zu befriedigen. Es dauerte sehr lange, bis er hart wurde, doch das irritierte sie nicht. Seine Augen waren weiterhin geschlossen und sein Rücken ihr zugekehrt, als sie begann ihn auszuziehen. Kurz bevor sie ihn in sich einführte, schob er sie weg, als ob er sich im Schlaf herumwälzen würde.
Diese Vorfälle machen es Oliver unmöglich, den Sex mit Ines zu genießen. „Ich kann unser Sexleben nicht mehr ernst nehmen. Wenn ich zu lange über all das nachdenke, was sie mir angetan hat, kann ich sie nicht mal mehr auf den Mund küssen.“
Oliver sitzt im Wohnzimmer auf der braunen Ledercouch, während er mir diese Situation schildert. Seine langen rotblonden Haare sind im Nacken zu einem Dutt zusammengebunden, der gleichfarbige Bart versteckt die Hälfte seines markanten Gesichts. Oliver sieht gut aus: offener Blick, volltätowiert, ein selbstbewusstes Auftreten. Trotz der kraftvollen Stimme, mit der er erzählt, merke ich, wie sehr diese Geschichte an ihm nagt.
Die Kombination Mann-sein und Opfer-sein ist nicht üblich. Zumindest nicht, wenn „der Täter“ eine Frau ist. Das Thema „häusliche Gewalt an Männern“ wird kaum thematisiert oder erforscht. „Warum auch“, werden sich viele fragen, „die können sich doch wehren und die Zahl der Fälle grenzt wahrscheinlich an Null, im Vergleich zu den Gewalttaten an Frauen.“