Jugendliche Gewalttäter: „Du Eselssohn, sei brav!“

Berlin –  Sechs türkischstämmige Jugendliche sind angeklagt, schuld am Tod von Jonny K. zu sein. Im Prozess stehen die Väter an ihrer Seite. Ein Gespräch mit dem Psychologen Kazim Erdogan über die Rolle türkischer Väter. Und jugendliche Gewalttäter.

Nach dem Tod von Jonny K., der am 14. Oktober 2012 auf dem Alexanderplatz erschlagen wurde, hatte sich der Hauptangeklagte Onur U. in Begleitung seines Vaters in die Türkei abgesetzt. Zwei weitere der sechs türkischstämmigen Angeklagten flohen ebenfalls in die Türkei. Melih Y. kehrte nach drei Tagen zurück.

Dass er, Osman A. und Hüseyin I. sich kurze Zeit später stellten, war das Ergebnis der Gespräche ihrer Väter, die Melih Y.s Vater zustande gebracht hatte. Kazim Erdogan beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit türkischen Vätern in Berlin. Wir führten mit ihm ein Gespräch über die Rolle türkischer Väter von jugendlichen Gewalttätern, alleinerziehende türkische Väter und Sprachlosigkeit in der Erziehung.

Herr Erdogan, in Berlin leben 170.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Wissen Sie, wie viele davon alleinerziehende Väter sind?

Darüber gibt es keine Statistik. Aber ich schätze mal, von den Vätern ausgehend, die meine Gruppe besuchen, dass es so 1500 sind. Tendenz von Monat zu Monat steigend.

Warum ist die Tendenz steigend?

Weil sich die Scheidungsraten bei uns schätzungsweise verdreifacht haben. Das hat mit den Eheschließungen zu tun, die man als Import- oder Heiratsehen bezeichnet. Man ist fälschlicherweise in Deutschland immer davon ausgegangen, dass das zu neunzig Prozent Frauen sind und hat fünfzig Jahre lang nur von Importbräuten geredet. Und die Importbräutigame haben keine Rolle gespielt.

Sind das denn so viele?

Natürlich. Bis vor fünf Jahren haben bundesweit jährlich zwischen dreißig- und fünfunddreißigtausend Eheschließungen zwischen Menschen stattgefunden, von denen ein Teil in Deutschland lebte und einer eingereist ist. Der Frauenanteil ist bei 70 Prozent, also bleiben 30 Prozent Männer. Und nur, weil man die gleiche Sprache spricht und die gleiche Religion hat, ist das kein Garantieschein für eine Ehe. Der Mann kündigt zum Beispiel in der Türkei seine Arbeit und träumt vom Paradies in Deutschland. Und dann bekommt er erstmal Taschengeld. Von der Frau.

Wieso bekommt er von der Frau Taschengeld?

Weil er herkommt und die ersten Jahre nicht arbeitet. Er ist der deutschen Sprache nicht mächtig, und die Frau arbeitet, weshalb er überhaupt erst ein Visum bekommt.

Wie passt das zum Verständnis des türkischen Mannes, dass er der Alleinernährer der Familie zu sein hat?

Diese Zeit wird als vorübergehend angesehen, bis er Deutsch gelernt und Arbeit gefunden hat. Solange, sagt er sich, beiße ich in den sauren Apfel und mache mit.

Das bedeutet doch eine große Belastung für den Mann.

Schon ab dem Tag der Eheschließung entsteht bei ihm Stress. Die Frau ist ihm voraus, und er sitzt da, ein hilfloser, unbrauchbarer Mensch. Er hat zwar Qualitäten und Fähigkeiten, kann sie aber nirgends ausstellen. Nach spätestens acht Jahren hat man sich völlig auseinander gelebt, weil die Wünsche auf beiden Seiten nicht in Erfüllung gegangen sind. Dann kommt es zur Trennung und der Mann ist davon überrascht. In diesem Moment rücken die Begriffe Ehre, Würde, Stolz, Versager der Nation in sein Bewusstsein.

Und Sie sagen, es ist die Frau, die sich trennt?

Bei den Importehen geht die Trennung zu 90 Prozent von der Frau aus. Der Mann hat sich isoliert und sich nur in türkischen Kreisen bewegt. Er hat kein Deutsch gelernt. Er hat keine Arbeit gefunden. Er hat in türkischen Männercafés gespielt und ist wahrscheinlich auch spielsüchtig geworden. Oder er hat mit Drogen zu tun bekommen. All das sorgt dafür, dass die Frau sich löst. Das kriege ich immer wieder mit.

Ein Beispiel: Ein Mann spielt 16 Stunden im Café Karten. Nachts um drei Uhr kommt er nach Hause und spielt den Chef. Er weckt die Frau auf und will etwas zu essen. Er ist verraucht, riecht nach Bier und will Sex. Die Frau wehrt sich. Er verliert die Kontrolle über sich, wird gewalttätig, es kommt zur Trennung. Zumal, wenn die Kommunikation nicht stimmt. Die Kommunikationslosigkeit in den Familien ist sowieso die Volkskrankheit Nummer eins.

Wie meinen Sie das?

Ich beobachte mit großer, großer Sorge, dass wir immer weniger miteinander reden und die virtuelle Welt unser Leben immer mehr erobert. In vielen Familien der Mittel- und Unterschicht werden kaum noch 400 Wörter in der Woche gesprochen. Und zwar Wörter wie folgt: Ich habe dir gestern schon fünf Euro gegeben: Oder: Ab morgen kriegst du kein Pausenbrot, wenn du nicht brav bist. Oder: Wenn Klagen von der Schule kommen, bricht dir dein Vater die Nase.

Unabhängig davon, ob man einen solchen Umgangston gut oder schlecht findet, bieten traditionelle Familienstrukturen ja auch Vorteile. Man lebt mit mehreren Generationen, man sorgt für einander.

Aber die Strukturen lösen sich auf! Ich kann den Bereich Jugendgewalt benennen. Da sieht man, dass sich die Söhne erfolgreich von ihren Eltern, die Vorbilder sein sollten, abgesetzt haben. Wenn man die Biografien der Intensivtäter oder überhaupt der Täter mal liest, stellt man fest, dass der Begriff Kommunikationslosigkeit dort eine der größten Rollen spielt.

In dem gerade laufenden Prozess gegen die sechs Angeklagten, die Schuld am Tod von Jonny K. sind, sind die Väter sehr präsent und stehen ihren Söhnen offenbar zur Seite.

Ich bin mir sicher, dass die Kommunikation zwischen den Vätern und Söhnen jetzt nur da ist, weil der Solidaritätseffekt eine Rolle spielt. Die Väter wollen jetzt retten, was sie retten können, weil sie durch diesen Prozess wahrscheinlich gemerkt haben, dass sie vieles versäumt haben. Deshalb lassen sie ihre Söhne jetzt nicht im Stich und zeigen Flagge.

Wie kommen Sie darauf?

Zum Beispiel, im Rahmen meines Projektes „Unser neues Dorf“, in dem ich vier Generationen zusammengebracht habe, habe ich einen Sohn erlebt, der mit 18 schon dreißig Anzeigen wegen Diebstahl, Raub und so weiter hatte. Die Eltern wussten davon nichts. Wie kommt das? Wie kommt es, dass ein Vater erst mitbekommt, dass sein Sohn mit Drogen zu tun hat, wenn der 18 Jahre alt ist? Das hat mit der Kommunikationslosigkeit zu tun. Er hat sich nicht mit seinem Sohn auseinandergesetzt. Falls er das getan hat, dann mit den Worten: Du Eselssohn, sei brav und mach’ mir keinen Ärger.

Woher kommt eigentlich diese Sprache? Sie zitierten eben schon: Warte, bis dein Vater kommt, der bricht dir die Nase.

Ich habe einen 75-Jährigen, der kommt mit seinem Sohn zu mir, und er hat gar nicht kapiert, dass der 45-Jährige fünf Kinder hat und selbst Opa ist. Der behandelt seinen Sohn wie sein Eigentum und sagt: „Halt dein Maul. Ich bin dein Vater. Schämst du dich nicht. Verdammt noch mal. Verschwinde.“

Aber woher kommt diese raue Sprache?

Aus dem ländlichen Teil der Türkei, wo die Menschen den ganzen Tag lang auf dem Feld geschuftet haben, nie Zeit für sich hatten, kein Radio, kein Fernsehen, kein Buch. Die haben das Leben als Strafe betrachtet. Ihre Sprache ist Verzweiflung, der Kampf gegen die Bedingungen. Mein Großvater war auch so. Mein Vater zum Glück nicht.

Ist das immer noch so? Besteht diese ländliche Sprache im modernen Berlin fort?

Die Menschen geben exakt das weiter, was sie selbst erlebt haben. Ich habe meine Männer gefragt: Wer hat in der Erziehung Gewalt erfahren? 80 Prozent haben Ja gesagt, und alle kommen aus ländlichen Gegenden, wo mühselige Lebensbedingungen herrschen. Wo es keine Logik, keine Ruhe, keine friedlichen Absichten gibt. Und ich habe gefragt: Wie viele von euch wenden Gewalt an? Davon haben sich wieder 90 Prozent gemeldet. Wenn ein kleines Kind sieht, dass der Vater die Mutter zusammenschlägt und dann raus zum Automatenspiel geht, dann nimmt dieses Kind einem anderen Kind das Spielzeug weg und schlägt zu, wenn es sich wehrt. Kein Mensch kommt gewalttätig auf die Welt. Wir dürfen niemals diese Spirale der Gewalt außer Acht lassen.

In Berlin gibt es die Polizei, die Präventionsbeauftragen, die Jugendämter, die Jugendgerichtshilfe. Wie kommt es, dass Eltern nichts von einem straffälligen Sohn mitbekommen? Heißt das, dass die Unmengen Sozialarbeiter und Polizisten die Familien nicht genügend aufsuchen?

Das kann ich uneingeschränkt mit Ja beantworten. Aber welche Lehrerin hat die Möglichkeit, dreißig Familien zu besuchen? Und Sozialarbeiter sind für hundert Familien zuständig. Doch die direkte Ansprache, der aufsuchende Kontakt sind die einzige Möglichkeit, diese Familien zu erreichen. Die Erfahrung mache ich seit dreißig Jahren ununterbrochen. Briefe und Flyer erreichen die Menschen nicht. Türkische Eltern gehen auch kaum zu Elternversammlungen. Den Begriff gab es in der Türkei bis vor zehn Jahren gar nicht.

Ist es für die Jungs eigentlich schwieriger, aus diesen starren Mustern auszubrechen? Stark sein, tapfer sein, von den Mädchen wird das nicht erwartet.

Das ist richtig. Die Mädchen heiraten und gehen. Aber, zum Beispiel, die Beschneidung. Die wird mit Hunderten Leuten gefeiert, der Sohn bekommt Goldstücke, Geld, Geschenke, man kauft ihm Anzüge wie einem osmanischen Sultan oder einem türkischen General. Er hat Ehre. Wie fühlt sich da die Schwester? Sie sagt später oft, dass sie sich wertlos fühlt.

Die Familienstruktur, die Sozialisation und fehlende Vorbilder sind das Problem. Seit wir in einer vaterlosen Gesellschaft leben, hat die Gewalt dramatisch zugenommen. In Neukölln haben wir mehr als zwölftausend alleinerziehende Mütter mit türkischer Zuwanderungsgeschichte, und deren Kinder gehen in Kitas, wo 99 Prozent der Erzieher weiblich sind.

Die Kinder kennen gar keine Männer?

Genau.

Ist Neukölln verloren?

Nein, niemals. Wäre dies so, würde ich nicht mit Leib und Seele dabei sein, Projekte zu stemmen.

Wenn Väter gewalttätig sind, wenn sie meinen, es sei das Beste für die Söhne, wenn sie auf die Nase fliegen und so fürs Leben lernen – sind Kinder da ohne Vater nicht besser dran?

Ein Vater, der ständig gewalttätig wird, ständig abwertet, ständig stigmatisiert, flucht, demütigt, beleidigt, ja, der sollte der Familie gestohlen bleiben.

Die Jungs befinden sich zudem permanent im Spagat zwischen der türkischen Tradition und dem modernen Westen. Wie halten die das aus?

Da sind wir wieder bei der Kommunikationslosigkeit. Vieles wird nicht bearbeitet, weil nicht darüber geredet wird. Irgendwann haben wir dann die sogenannten tickenden Zeitbomben. Ich habe in der Strafanstalt Tegel mit sechs Mördern, die ihre Frauen umgebracht haben, gesprochen.

Alle sechs sagten mir, wenn sie gewusst hätten, dass sie sich hätten beraten lassen können, dass es Vätergruppen gibt, wo sie reden können, hätten sie das wohl nicht gemacht. Bevor ich berentet werde, will ich in jedem Berliner Bezirk eine Vätergruppe einrichten und auch noch Gruppen für gefährdete Jugendliche.

Wann kommen die Männer zu Ihnen? In welchem Moment entschließen sie sich zu dem Schritt?

In jedem Moment. Letzte Woche haben mich fünf Männer aus Bayern angerufen, ein Kosovo-Albaner, der zwangsverheiratet werden soll, ein Mann, der sich trennt und drei spielsüchtige Männer.

Die Motivation ist allein eine persönliche Notlage.

Richtig.

Werden Sie in der türkischen Gemeinschaft belächelt?

Nicht mehr. Denn ich backe kleine Brötchen. Ich mache keine großen Sprüche und sage: Ich werde Neukölln retten. Aber bei dem, was ich in Angriff nehme, kommt zumindest ein kleines Brötchen raus. Denn wenn man als türkischer Mann ein Problem hat, wohin kann man gehen? In die Moschee? Fünfmal am Tag beten, Allah, löse meine Probleme? Oder in ein Männercafé, trinken, Automaten spielen, Geld verlieren und meist negative Pläne schmieden? Zu uns kommen inzwischen auch die, die uns früher als Weicheier bezeichnet haben. Weil sie sehen, dass die Männer hier kommunizieren und wieder in die Gesellschaft finden.

Das Interview führten Annett Heide und Andreas Kopietz.

Quelle: Berliner Zeitung am 28.06.2013